Moltina
Moltina wuchs mit der Alten heran und mit den Tieren, von ihnen lernte sie die Sprache, und von der Aguana die Unterschiede der Pflanzen und Steine, der Wetter, der Monde und Zeiten. Welch schönes Menschenkind, sangen die Murmeltiere, welch liebe Gespielin. Moltina lächelte selten und weinte nie.
Im Wasser sah sie ihr Spiegelbild, sah, dass sie anders war als alles, was sie erkannte. Sie fragte
die Aguana, was sie sei, woher sie käme, so allein,
und was mit ihr geschehen sollte. Die Aguana schwieg, und Moltina befragte Wasser und Felsen, sie fragte Blumen und Geier. Doch das Wasser rauschte und rann, die Felsen wurden warm und kühlten wieder ab. Der Geier stürzte sich auf die Beute und schwang sich wieder fort, und die Murmeltiere lebten gemeinsam und starben
allein. Armes Menschenkind, sangen sie,
armes Menschenkind, hat keinen Gefährten.
Gräser wuchsen und welkten, der Himmel strahlte am Tag und erlosch im Blau. Moltina fragte die Sterne in der Nacht, sie blinzelten und verblassten am Morgen, niemand nahm das Mädchen wahr. Moltina stieg in den Felsen herum, sah, daß der Ort weiterführte, hinter den Fluss, den Berg, den Blick. Unendlich schien alles weiterzugehen, und sie, mittendrin, allein. Sie wagte sich jeden Tag ein Stück weiter, und mit den Kreisen, die sie zog, kamen Trauer und Verlassenheit. Da erbarmten sich ihrer die Murmeltiere. Als sich ein Jäger aus dem Popenatal in die Ampezzaner Berge verirrte, zeigten sie sich und pfiffen nicht, hüpften vor ihm her, stellten sich auf die Hinterläufe, spielten, liefen, lockten, bis er vor Moltina stand, die auf einem Stein saß und ihre Fragen vor sich hinschwieg. Von nun an stieg der Jäger öfters hoch zu den Murmeltieren
und zu Moltina. Von ihm erfuhr sie von den Dörfern,
wo die Menschen lebten, und eines Mittags im Herbst zog sie mit ihm. Die Aguana umarmte das Mädchen, Moltina lachte und weinte, die Murmeltiere pfiffen, plötzlich leuchtete der Berg rot. Die Aguana trocknete ihr die Tränen aus dem Gesicht, zeigte
auf die Hohe Gaisl und sagte: Hüte dich bei den Menschen vor Schmerz und Leid. Berge und Wasser haben Teil an dem, was dir widerfährt. Wenn Berge und Wasser leiden, stürzen sie sich auf die Menschen. Moltina schaute auf, sah die Hohe Gaisl rot leuchten. Erst im Popenatal, im Land der Ladrines, wo sie bei den Eltern und Geschwistern ihres Geliebten lebte, fielen Moltina die Worte der Aguana wieder ein. Alle drangen in sie mit ihren Fragen, wer ihr Vater sei und wer ihre Mutter,
woher sie komme, wollten sie wissen. Moltina
stand da, zeigte in die Hohe Gaisl, den roten Berg,
die Landrines lachten, und Moltina begriff nicht,
was sie von ihr wollten. Moltina sehnte sich nach dem Schweigen der Berge, der Wasser und der Tiere, das ihr näher war als die Fragen der Landrines. Sie wurde traurig und wollte zurück. Der Wind fuhr heiß in die Berge, sie stießen schwarze Wolken aus, und Moltina flüchtete zu ihrem Liebsten, der sie in die Arme nahm und tröstete, bis es still wurde ringsum. Doch als Moltina das erste Kind geboren hatte, schlich sie nachts aus dem Popenatal fort und stieg den Berg hinauf zur Aguana. Die Murmeltiere begrüßten die aufgehende Sonne, und der Berg
war rot, wie sie ihn verlassen hatte. Lang suchte
der Mann nach ihr. Als er sie fand, bat ihn Moltina,
bei ihr und dem Kind zu bleiben. So lebten sie
in den Bergen.
Moltina wuchs mit der Alten heran und mit den Tieren, von ihnen lernte sie die Sprache, und von der Aguana die Unterschiede der Pflanzen und Steine, der Wetter, der Monde und Zeiten.
Welch schönes Menschenkind, sangen die Murmeltiere, welch liebe Gespielin. Moltina lächelte selten und weinte nie. Im Wasser sah sie ihr Spiegelbild, sah, dass sie anders war als alles, was sie erkannte. Sie fragte die Aguana, was sie sei, woher sie käme, so allein, und was mit ihr geschehen sollte. Die Aguana schwieg, und Moltina befragte Wasser und Felsen, sie fragte Blumen und Geier. Doch das Wasser rauschte und rann, die Felsen wurden warm und kühlten wieder ab. Der Geier stürzte sich auf die Beute und schwang sich wieder fort, und die Murmeltiere lebten gemeinsam und starben allein.
Armes Menschenkind, sangen sie, armes Menschenkind,
hat keinen Gefährten.
Gräser wuchsen und welkten, der Himmel strahlte am Tag und erlosch im Blau. Moltina fragte die Sterne in der Nacht, sie blinzelten und verblassten am Morgen, niemand nahm das Mädchen wahr. Moltina stieg in den Felsen herum, sah, daß der Ort weiterführte, hinter den Fluss, den Berg, den Blick. Unendlich schien alles weiterzugehen, und sie, mittendrin, allein. Sie wagte sich jeden Tag ein Stück weiter, und mit den Kreisen, die sie zog, kamen Trauer und Verlassenheit. Da erbarmten sich ihrer die Murmeltiere. Als sich ein Jäger aus dem Popenatal in die Ampezzaner Berge verirrte, zeigten sie sich und pfiffen nicht, hüpften vor ihm her, stellten sich auf die Hinterläufe, spielten, liefen, lockten, bis er vor Moltina stand, die auf einem Stein saß und ihre Fragen vor sich hinschwieg. Von nun an stieg der Jäger öfters hoch zu den Murmeltieren und zu Moltina.
Von ihm erfuhr sie von den Dörfern, wo die Menschen lebten, und eines Mittags im Herbst zog sie mit ihm. Die Aguana umarmte das Mädchen, Moltina lachte und weinte, die Murmeltiere pfiffen, plötzlich leuchtete der Berg rot. Die Aguana trocknete ihr die Tränen aus dem Gesicht, zeigte auf die Hohe Gaisl und sagte: Hüte dich bei den Menschen vor Schmerz und Leid. Berge und Wasser haben Teil an dem, was dir widerfährt. Wenn Berge und Wasser leiden, stürzen sie sich auf die Menschen. Moltina schaute auf, sah die Hohe Gaisl rot leuchten. Erst im Popenatal, im Land der Ladrines, wo sie bei den Eltern und Geschwistern ihres Geliebten lebte, fielen Moltina die Worte der Aguana wieder ein. Alle drangen in sie mit ihren Fragen, wer ihr Vater sei und wer ihre Mutter, woher sie komme, wollten sie wissen. Moltina stand da, zeigte in die Hohe Gaisl, den roten Berg,
die Landrines lachten, und Moltina begriff nicht, was sie von ihr wollten. Moltina sehnte sich nach dem Schweigen der Berge,
der Wasser und der Tiere, das ihr näher war als die Fragen der Landrines. Sie wurde traurig und wollte zurück. Der Wind fuhr heiß
in die Berge, sie stießen schwarze Wolken aus, und Moltina flüchtete
zu ihrem Liebsten, der sie in die Arme nahm und tröstete, bis es still wurde ringsum. Doch als Moltina das erste Kind geboren hatte, schlich sie nachts aus dem Popenatal fort und stieg den Berg hinauf zur Aguana. Die Murmeltiere begrüßten die aufgehende Sonne,
und der Berg war rot, wie sie ihn verlassen hatte. Lang suchte der Mann nach ihr. Als er sie fand, bat ihn Moltina, bei ihr und dem Kind zu bleiben. So lebten sie in den Bergen.
"Moltina lachte und weinte,
plötzlich leuchtete der Berg rot."
Eines Nachts schreckten sie aus dem Schlaf. Pferdehufe und Stimmen drangen zu ihnen in die Höhle. Hinter Steinen und Wacholder sahen sie fremde Menschen auf ihren Wegen reiten, Frauen mit Pfeilen im Köcher und Männer mit Schwertern. Sie zogen abwärts, wo die Almwiese flach anhält.
Wo die Wiese wieder ins Tal fallt, hielten die Fremden an, eine der Frauen ging zu Moltina und zu ihrem Geliebten. Auch die anderen stiegen zu ihnen und umringten sie. Die Fremden erzählten, dass sie aus der großen Ebene im Osten kamen, dass sie Fanes hießen und friedlich waren. Sie suchten einen Ort, um sich ihre Hütten zu bauen, fernab vom Weg,
auf dem kriegerische Stämme südwärts zogen.
Sie hatten ihre Fürstin bei der letzten Schlacht verloren und wollten nicht mehr kämpfen.
Moltina nahm die Kinder der Fremden an der Hand: Kommt, sagte sie, ich kenne jeden Stein, jedes Wasser, jeden Baum, ich bringe euch auf die Conturines, nach Sennes und Vanna. Drei Tage wanderten sie nach Süden und Westen, Moltina öffnete den Fanes den Weg, und die Fanes machten sie zu ihrer Fürstin. Als sie auf den Conturines angekommen waren, lehrten die Kriegerinnen Moltina, wie man Pfeile aus Schilfrohr schnitzt,
und sie lehrten sie einen Bogen führen. Das Land
auf Sennes und Vanna nannten sie Fanis. Nur wenn der Berg sich weiß färbte, zog sich Moltina zurück in die Höhlen der Murmeltiere. Dann herrschten Kälte und Schnee über Fanis. Die Frauen und die Männer lehnten ihre Waffen an die Felswände, und Moltina ließ auf ihre Schilde rote Murmeltiere malen.
Außen an den Felsen rund um die Conturines sah man gegen Osten ein rotes Murmeltier, das die Sonne begrüßte.
Eines Nachts schreckten sie aus dem Schlaf. Pferdehufe und Stimmen drangen zu ihnen in die Höhle. Hinter Steinen und Wacholder sahen sie fremde Menschen auf ihren Wegen reiten, Frauen mit Pfeilen im Köcher und Männer mit Schwertern. Sie zogen abwärts, wo die Almwiese flach anhält. Wo die Wiese wieder ins Tal fallt, hielten die Fremden an, eine der Frauen ging zu Moltina und zu ihrem Geliebten. Auch die anderen stiegen zu ihnen und umringten sie. Die Fremden erzählten, dass sie aus der großen Ebene im Osten kamen, dass sie Fanes hießen und friedlich waren. Sie suchten einen Ort, um sich ihre Hütten zu bauen, fernab vom Weg, auf dem kriegerische Stämme südwärts zogen. Sie hatten ihre Fürstin bei
der letzten Schlacht verloren und wollten nicht mehr kämpfen.
Moltina nahm die Kinder der Fremden an der Hand: Kommt, sagte sie, ich kenne jeden Stein, jedes Wasser, jeden Baum, ich bringe euch auf die Conturines, nach Sennes und Vanna. Drei Tage wanderten sie nach Süden und Westen, Moltina öffnete den Fanes den Weg,
und die Fanes machten sie zu ihrer Fürstin. Als sie auf den Conturines angekommen waren, lehrten die Kriegerinnen Moltina, wie man Pfeile aus Schilfrohr schnitzt, und sie lehrten sie einen Bogen führen. Das Land auf Sennes und Vanna nannten sie Fanis.
Nur wenn der Berg sich weiß färbte, zog sich Moltina zurück in die Höhlen der Murmeltiere. Dann herrschten Kälte und Schnee über Fanis. Die Frauen und die Männer lehnten ihre Waffen an die Felswände, und Moltina ließ auf ihre Schilde rote Murmeltiere malen. Außen an den Felsen rund um die Conturines sah man gegen Osten ein rotes Murmeltier, das die Sonne begrüßte.
Anita Pichler, Die Frauen aus Fanis