Kelina
Ruhig ästen die Lämmer. Die Sonne hatte ihr
weißes Licht über die Weiden gelegt, über Wasser und Felsen. Selbst der Wind verharrte still.
Plötzlich begannen die Lämmer zu blöken, stoben auseinander, nach allen Seiten davon, und über
das kleinste Lamm senkte sich schwarz der Schatten der Pojana. Der Lämmergeier stieß nieder und erhob sich, die Weide war leer.
Tschan Bolpin stieg unter dem Schatten am Antermont-Bach höher bis unter die steilen Wände am Saß de Salèi. Dort verließ ihn der Schatten
des Geiers. Er hörte das Schaf noch blöken, als er
am Rand des Beckens stand, wo sich das Wasser sammelte, das vom Berg stürzte. Tschan Bolpin,
der Felsgeborene, bog die Hand zur Muschel,
er hörte nur den Wasserfall. Er warf sein Fell ins Gras und schritt durch die Wassermauer zum Felsen,
wo es trocken war. Zwischen Fels und Wasser spürte er Feuer in den Augen, die Sonne hinter Wasserschleiern, da wurde es dunkel, der Geier
flog durch die Sonne. Er ließ das Lamm am Felsenvorsprung fallen. Tschan Bolpin stieg aus
dem Wasser und kletterte die Felswand hinauf, zog sich am trockenen Felsen hoch, stemmte den Körper aus, zog sich höher, Blut tropfte ihm auf die Finger, dann war der Boden weich, eine Almwiese breitete sich aus. Zwischen Hahnenfuß und Arnika saß Kelina. Tschan Bolpin sah das tote Tier in ihrem Schoß,
Blut tropfte aus den Augenhöhlen. Kelina war schön, Tschan Bolpin war erschöpft und hungrig, er fragte nach dem Geier, Kelina lächelte; er sah das Blut an ihren Fingern nicht. Er setzte sich zu ihr, und mit
den Zähnen rissen sie das Lamm. Tschan Bolpin sah nichts als Kelina, ihre Schönheit.
Winter und Sommer zogen durch die Berge,
Tschan Bolpin zählte sie nicht. Ihm schien der Winter eine einzige Nacht und der Sommer der Tag, der ihr folgte. Er war erstaunt, als Kelina ihn bat, zu den Menschen zurückzukehren. Plötzlich lag er wach
in der Nacht und fand sich allein. Der Wind zog eisig durch die Höhle; wo sein Lager war, wirbelte Schnee über die Felle am Boden. Eiszapfen hingen an der Decke. Er schlang die Hände um Kelinas Körper, doch statt der Wärme spürte er nur vereiste Haarsträhnen im Nacken. Er kroch zum Höhlenausgang, stieß auf eine Wand aus Schnee. Nun erinnerte sich Tschan Bolpin an die Hütten der Menschen, an das Feuer
in ihren dunklen Stuben, und er schlief schwer und traurig wieder ein. Als er erwachte, war die Höhle freundlich und warm wie immer, draußen Grün
und Hahnenfuß, Speik duftete bis an sein Bett.
Er blinzelte, die Sonne stand hoch und schwarz.
Ein Geier stieß daraus nieder. Kelina strich ihm den Schlaf aus den Augen, sie war noch schöner als alles, was er kannte, und die Schönheit machte ihn traurig, da er sie nicht begehrte. Tschan Bolpin dachte nur an die Menschen, er freute sich an ihrer Umarmung nicht. Kelina lächelte, als er fortging. Unterwegs strich er sich durchs Haar, zog eine Geierfeder heraus und steckte sie in den Gürtel.
Ruhig ästen die Lämmer. Die Sonne hatte ihr weißes Licht über die Weiden gelegt, über Wasser und Felsen. Selbst der Wind verharrte still. Plötzlich begannen die Lämmer zu blöken, stoben auseinander, nach allen Seiten davon, und über das kleinste Lamm senkte sich schwarz der Schatten der Pojana. Der Lämmergeier stieß nieder
und erhob sich, die Weide war leer.
Tschan Bolpin stieg unter dem Schatten am Antermont-Bach höher bis unter die steilen Wände am Saß de Salèi. Dort verließ ihn der Schatten des Geiers. Er hörte das Schaf noch blöken, als er am Rand des Beckens stand, wo sich das Wasser sammelte, das vom Berg stürzte. Tschan Bolpin, der Felsgeborene, bog die Hand zur Muschel, er hörte nur den Wasserfall. Er warf sein Fell ins Gras und schritt durch die Wassermauer zum Felsen, wo es trocken war. Zwischen Fels und Wasser spürte er Feuer in den Augen, die Sonne hinter Wasserschleiern, da wurde es dunkel, der Geier flog durch die Sonne. Er ließ das Lamm am Felsenvorsprung fallen. Tschan Bolpin stieg aus dem Wasser und kletterte die Felswand hinauf, zog sich
am trockenen Felsen hoch, stemmte den Körper aus, zog sich
höher, Blut tropfte ihm auf die Finger, dann war der Boden weich,
eine Almwiese breitete sich aus. Zwischen Hahnenfuß und Arnika saß Kelina. Tschan Bolpin sah das tote Tier in ihrem Schoß, Blut tropfte aus den Augenhöhlen. Kelina war schön, Tschan Bolpin war erschöpft und hungrig, er fragte nach dem Geier, Kelina lächelte; er sah das Blut an ihren Fingern nicht. Er setzte sich zu ihr, und mit den Zähnen rissen sie das Lamm. Tschan Bolpin sah nichts als Kelina,
ihre Schönheit.
Winter und Sommer zogen durch die Berge, Tschan Bolpin zählte sie nicht. Ihm schien der Winter eine einzige Nacht und der Sommer
der Tag, der ihr folgte. Er war erstaunt, als Kelina ihn bat, zu den Menschen zurückzukehren. Plötzlich lag er wach in der Nacht und fand sich allein. Der Wind zog eisig durch die Höhle; wo sein Lager war, wirbelte Schnee über die Felle am Boden. Eiszapfen hingen an der Decke. Er schlang die Hände um Kelinas Körper, doch statt der Wärme spürte er nur vereiste Haarsträhnen im Nacken. Er kroch zum Höhlenausgang, stieß auf eine Wand aus Schnee. Nun erinnerte sich Tschan Bolpin an die Hütten der Menschen, an das Feuer in ihren dunklen Stuben, und er schlief schwer und traurig wieder ein. Als er erwachte, war die Höhle freundlich und warm wie immer, draußen Grün und Hahnenfuß, Speik duftete bis an sein Bett. Er blinzelte,
die Sonne stand hoch und schwarz. Ein Geier stieß daraus nieder. Kelina strich ihm den Schlaf aus den Augen, sie war noch schöner
als alles, was er kannte, und die Schönheit machte ihn traurig,
da er sie nicht begehrte. Tschan Bolpin dachte nur an die Menschen, er freute sich an ihrer Umarmung nicht. Kelina lächelte, als er fortging. Unterwegs strich er sich durchs Haar, zog eine Geierfeder heraus und steckte sie in den Gürtel.
"Un avvoltoio è sceso in picchiata.
Kelina gli accarezzò il sonno dagli occhi."
Als Tschan Bolpin ins Dorf kam, erschrak er.
Keiner seiner alten Freunde grub am Acker,
die Hütten waren anders gebaut, und die Menschen trugen Farben, die er nicht kannte. Er fragte nach seiner Mutter Delba, aber niemand kannte sie, niemand erinnerte sich an sie. In ihren Liedern sangen die Menschen von dem, was nicht mehr war; Tschan Bolpin schien es, als sängen sie von Kelina, die ihm bei den Menschen fehlte. Er erzählte von ihr. Nächtelang erzählte er von der Schönsten, die den Geiern befahl und allen Tieren und Pflanzen. Ungläubig lauschten die Menschen und lachten manchmal, wenn sie seine alte Sprache
nicht verstanden.
Dreimal suchte Tschan Bolpin den Weg zu Kelina, aber er fand den Einstieg in den Felsen nicht.
Der Wasserfall musste sich einen anderen Weg gebahnt haben, das Tor zu Kelina war verschüttet. Einmal, als die Fanes wieder ihre traurigen Lieder sangen und Tschan Bolpin von Kelina erzählte, und sie ihm nicht glaubten, drehte er die Feder zwischen den Fingern. Plötzlich stieß ein Geier nieder, und Kelina stand mitten unter den Menschen. Tschan Bolpin wurde es warm und kalt, als er sie sah.
Ihm wurde schwindlig, er schloss die Augen,
er glaubte sich von Geierkrallen zerrissen,
und als er die Augen wieder öffnete, war Kelina verschwunden; er war allein.
Lang lebte Tschan Bolpin als Hirte bei den Fanes.
Die Geier kreisten über seine Herde und stürzten sich kein einziges Mal auf ein Tier. Wenn sich ein Lamm in den Felsen verlor, holte er es lebend aus den tiefsten Schluchten und pflegte es gesund. Doch ihn befiel ein Leid, das man nicht heilen kann. Es ist die Unruhe, welche die Menschen hochlockt, immer höher, über alle Wasser, bis in die steilsten Felsen, wo sie sich versteigen und den Weg zurück nicht mehr finden. Tschan Bolpin ist auf Tannas Finger getreten, und sie hat ihn zurückgeholt zu Kelina, in die Schönheit, das Eis. Geier kreisen über die Schäferhütte.
Als Tschan Bolpin ins Dorf kam, erschrak er. Keiner seiner alten Freunde grub am Acker, die Hütten waren anders gebaut, und die Menschen trugen Farben, die er nicht kannte. Er fragte nach seiner Mutter Delba, aber niemand kannte sie, niemand erinnerte sich an sie. In ihren Liedern sangen die Menschen von dem, was nicht mehr war; Tschan Bolpin schien es, als sängen sie von Kelina, die ihm bei den Menschen fehlte. Er erzählte von ihr. Nächtelang erzählte er von der Schönsten, die den Geiern befahl und allen Tieren und Pflanzen. Ungläubig lauschten die Menschen und lachten manchmal, wenn sie seine alte Sprache nicht verstanden.
Dreimal suchte Tschan Bolpin den Weg zu Kelina, aber er fand
den Einstieg in den Felsen nicht. Der Wasserfall musste sich einen anderen Weg gebahnt haben, das Tor zu Kelina war verschüttet. Einmal, als die Fanes wieder ihre traurigen Lieder sangen und Tschan Bolpin von Kelina erzählte, und sie ihm nicht glaubten, drehte er
die Feder zwischen den Fingern. Plötzlich stieß ein Geier nieder,
und Kelina stand mitten unter den Menschen. Tschan Bolpin wurde es warm und kalt, als er sie sah. Ihm wurde schwindlig, er schloss
die Augen, er glaubte sich von Geierkrallen zerrissen, und als er
die Augen wieder öffnete, war Kelina verschwunden; er war allein.
Lang lebte Tschan Bolpin als Hirte bei den Fanes. Die Geier kreisten über seine Herde und stürzten sich kein einziges Mal auf ein Tier. Wenn sich ein Lamm in den Felsen verlor, holte er es lebend aus den tiefsten Schluchten und pflegte es gesund. Doch ihn befiel ein Leid, das man nicht heilen kann. Es ist die Unruhe, welche die Menschen hochlockt, immer höher, über alle Wasser, bis in die steilsten Felsen, wo sie sich versteigen und den Weg zurück nicht mehr finden. Tschan Bolpin ist auf Tannas Finger getreten, und sie hat ihn zurückgeholt zu Kelina, in die Schönheit, das Eis. Geier kreisen
über die Schäferhütte.
Anita Pichler, Die Frauen aus Fanis